Die Unterschrift

DIE UNTERSCHRIFT

Mein Vater war ein Mann der Prinzipien. Ein Mann, der mit Werten, Disziplin und einer unerschütterlichen Integrität durchs Leben ging. Bildung, Ehrlichkeit, Respekt und Eigenverantwortung waren für ihn nicht verhandelbar. Er glaubte daran, dass ein Mensch nur durch Wissen, harte Arbeit und Anstand wächst. Doch obwohl er klare Erwartungen an uns hatte, gab er uns die größte Freiheit, die man einem Kind schenken kann: die Freiheit, den eigenen Weg zu gehen – ohne Schuldgefühle oder Verpflichtungen gegenüber den Eltern.

Dabei war er kein autoritärer Vater. Er wollte nicht „Baba“ oder „Papa“ genannt werden, sondern bestand darauf, dass wir ihn beim Vornamen nannten – Ali. Für ihn war Respekt keine Frage von Titeln, sondern von Vertrauen. Und weil unsere Beziehung eher die eines Freundes war, habe ich mir irgendwann meine eigenen Spitznamen für ihn ausgedacht, abgeleitet von seinem richtigen Namen, so wie man es unter Freunden macht. Mal war er Like, wenn er den alten, weisen Mann präsentierte, mal Lio, wenn er mein gleichaltriger, cooler Freund war – je nachdem, wie es gerade passte. Er ließ es einfach so stehen, ohne Kommentar, als wäre es das Normalste der Welt.

Er war Betriebsarzt. In seiner Tasche oder seinem Medizinschrank zu Hause lagen Attestvordrucke für Mitarbeiter – bereits mit einem Stempel versehen, aber ohne ausgefüllte Daten. Ich war damals zwölf oder dreizehn Jahre alt und, sagen wir mal, ein kreatives Kind mit einem ausgeprägten Sinn für Möglichkeiten. Eines Tages fiel mir auf, dass diese Vordrucke praktisch „halbe Atteste“ waren – es fehlte nur noch eine Unterschrift und eine Diagnose. Und wer war ich, dass ich eine solche Gelegenheit ungenutzt verstreichen ließ? Ich schnappte mir einige dieser Vordrucke, nahm mir Stift und Papier und begann, die Unterschrift meines Vaters zu üben. Ich perfektionierte sie so gut, dass ich mich fast selbst überzeugt hätte, dass ich Arzt bin.

Aber ich wollte ja nicht nur optisch überzeugen – ich brauchte auch Fachwissen. Also stellte ich meinem Vater neugierige Fragen über Krankheiten, natürlich ganz harmlos: „Lio, wie schreibt man eine Erkältung auf Latein? Und Magen-Darm? Und Fieber?“ Er erklärte es mir geduldig, ohne zu ahnen, dass sein Sohn gerade dabei war, eine Zweitkarriere als inoffizieller Schul-Kinderarzt zu starten.

Fortan stellte ich Atteste für meine Schulfreunde aus. Sie wollten mal hier, mal da einen Tag frei haben? Kein Problem! Eine kleine Erkältung mit „Rhinopharyngitis acuta“? Gern geschehen. Magenprobleme mit „Gastroenteritis infectiosa“? Da hast du dein Attest. Ich fühlte mich wie ein Genie. Ein zwölfjähriger Arzt ohne Studium!

Und das Beste daran? Es flog nie auf. Mein Vater ahnte nichts. Er führte sein Leben, ohne zu wissen, dass sein Sohn heimlich als „Dr. Junior“ tätig war. Ich trug dieses Geheimnis jahrelang mit mir herum – bis zu dem Tag, an dem ich es ihm offenbarte.

1994 verließ ich Albanien als Flüchtling und kam nach Deutschland. Ich hatte nichts – kein Zuhause, keine Sicherheit, keine Gewissheit, ob ich bleiben durfte. In einer neuen Welt, in der Menschen Häuser, Wohlstand und Sicherheit hatten, wurde mir bewusst, dass ich außer den Werten meines Vaters nichts geerbt hatte. Kein Geld, kein Besitz – nur das, was er mir beigebracht hatte. Aber ich hatte seine Unterschrift.

Ich wollte, dass diese Signatur, die ich als Kind gefälscht hatte, nicht mehr ein Mittel des Betrugs war, sondern ein Symbol für meinen Erfolg, meine Ehrlichkeit und meinen Respekt für meinem Vater. Also besuchte ich ihn. Ich nahm ein Blatt Papier, schrieb meine Version seiner Unterschrift darauf und schob es ihm hin. „Unterschreib mal!“, sagte ich. Er tat es, ohne sich etwas dabei zu denken. Dann hielt ich ihm beide Blätter vor die Nase.

„So, Like, jetzt sag mir mal: Welche ist deine?“

Er schaute sich die beiden Unterschriften an. Erst runzelte er die Stirn, dann hielt er sie gegen das Licht, dann drehte er die Blätter um. Und schließlich sagte er: „Das kann nicht sein. Die sehen gleich aus!“

Ich grinste und erzählte ihm die ganze Geschichte von meinen Attesten in der Schulzeit. Als er begriff, was ich da jahrelang hinter seinem Rücken gemacht hatte, brach er in schallendes Lachen aus.

Dann wurde ich ernst. „Als Wiedergutmachung, Lio, verspreche ich dir etwas: Ich werde dafür sorgen, dass diese Unterschrift weltbekannt wird.“

Ende Januar 2016 besuchte ich ihn. Ich hatte inzwischen ein erfolgreiches Café, eine Barista-Schule und war weltweit bekannt, reiste um die Welt und gab Autogrammstunden mit seiner Unterschrift. Ich fragte ihn, ob damit in mein Versprechen eingelöst sei.

Er sah mich an und sagte: „Ja, du hast dein Versprechen gehalten, und ich bin stolz auf dich. Aber es ist nie zu spät für ein Diplom. Weißt du, dass es Menschen gibt, die erst mit 80 oder später studieren?“

Ein Monat später verstarb er.

Heute, am 1. März 2025, dem Todestag meines Vaters, eröffne ich offiziell meine Rösterei. Ich ließ seine Unterschrift mit Kaffee an die Wand malen – nicht als Dekoration, sondern als Symbol für alles, was mich geprägt hat. Sein Name steht nun dort, wo mein Erfolg seinen Ursprung hat.

Mein Vater hat mir nichts Materielles hinterlassen. Kein Haus, kein Geld, kein Erbe. Aber er hat mir die wichtigste Lektion beigebracht: Sein Name, sein Wort, seine Unterschrift hatten Gewicht – nicht, weil sie auf einem Papier stand, sondern weil sie für seine Werte stand. Heute ist diese Unterschrift ein Zeichen von Respekt, Ehrlichkeit, Disziplin und Freiheit. Und vielleicht ist sie damit wertvoller als jedes materielle Erbe.

2 Kommentare

Sanjid hossen

I am intaresting

Ria

Hi Dritan Alsela! How are you? I hope you’re healthy and happy.
Let me introduce myself, my name is Ria, and I’m from Cirebon City, one of the cities in the western part of Indonesia. My husband and I own a coffee shop here called Baraja Coffee Roastery, which has been running for 13 years. On October 1st, 2025, our coffee shop will celebrate its 14th anniversary.

It is such a great pride for my husband to have built a coffee shop that is sustainable and considered a legend in our city. Both my husband and I are also big fans of you, so it would mean a lot to us if you could kindly give a birthday greeting as a gift for our coffee shop’s anniversary, and also as a special present for my husband, Fauzi Heiqmeuh.

It would be such an honor to receive your greeting, which we would love to share on Baraja Coffee Roastery’s Instagram, of course with your permission.

Thank you in advance.

Sincerely
Ria

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